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AL-HIKAM AL-ʿATA'IYYA
Das Buch der Weisheit
Erster Weisheitspruch

ÜBERSETZUNG UND KOMMENTAR - Nuh Ha Mim Keller

UNENDLICHKEIT ist die Heimat, aus der Allah die Seele gebracht und dann wieder durch die Zunge Seines Gesandten ﷺ – Allah segne ihn und gebe ihm Heil – aus ihrer Verbannung zurückgerufen hat. Die Aufgabe der traditionellen islamischen Spiritualität ist es auf diesen Aufruf zu antworten und das Herz aus der Enge des Ich in die Unbegrenztheit des Wissens und der Liebe zum Göttlichen zu erheben.

Viel ist über das Sūfitum gesprochen und geschrieben worden, doch kann man diesen Wissenszweig wohl am ehesten im Zusammenhang verstehen, weshalb ich mit den Weisheitssprüchen aus dem klassischen Handbuch der geistigen Entwicklung des ägyptischen Meisters Ibn ʿAtā'i-Llāh beginnen möchte. Es ist das „Buch der Weisheiten", das al-Hikam al-ʿAtā'iyya das ich zusammen mit einem Kommentar übersetzen möchte. Ibn ʿAtā'i-Llāh raDiy-Allahu-anhu.gif – möge Allah an ihm Wohlgefallen haben – schrieb für jene, die einem Tarīqa d.h. einen wirklichen Pfad und Scheich folgen, obgleich seine Worte auch andere interessieren können. Er sagt:

1. Ein Kennzeichen dafür, daß man noch auf eigene Werke vertraut, ist, daß sich bei einem Fehltritt die Hoffnung vermindert.*

Das Buch beginnt mit diesem grundlegenden Weisheitsspruch, weil es zur Adab oder der „richtigen Verhaltensweise" des Beschreitens des spirituellen Pfades gehört, sich auf den Tauhīd oder die „Göttliche Einheit" zu konzentrieren, was hier heisst, sich auf Allah zu verlassen, nicht auf [die eigenen] Werke, da

„Wo doch Allah euch erschaffen hat und das Werk eurer Hānde"
(Qur'ān, Sūre 37 as-Sāffāt, Vers 96)

Die Methode des geistigen Aufstiegs ist dreifach und besteht aus dem Wissen (ʿilm), dem Handeln (ʿamal) und dem sich daraus ergebenden Zustand (hāl), der von Allah gewährt wird.

Das Wissen bedeutet hier alles, was uns durch den Propheten ﷺ Allah segne ihn und gebe ihm Heil – übermittelt worden ist und was den Inhalt des Göttlichen Gesetzes oder der Scharīʿa ausmacht. Die Anwendung dieses Wissens, innerlich und äußerlich, mit Herz und Gliedern, ist der geistige Pfad oder die Tarīqa. Der sich daraus ergebende Zustand, daß man das Herz Allah nahebringt und so Ihm nahekommt, ist das Dämmern der Göttlichen Gegenwart über der Seele, was bei den Sūfīs als „höchste Wirklichkeit" oder Haqīqa genannt wird.

Als Führer des geistigen Weges behandelt Ibn ʿAtā'i-Llāh in diesem Werk den zweiten Moment dieses Aufstiegs, desjenigen der Verhaltensweise und der Werke. Daher läßt er zu Beginn seines Buches den Reisenden wissen, daß sein geistiger Fortschritts allein in Allahs Hand liegt. Ist man entmutigt bei den unvermeidlichen Fehlern, die man auf dem Pfad macht, so ist dies ein Indiz dafür, daß man sich mehr auf seine Taten verläßt als auf Allah.

Die Werke bringen einen nicht zum erstrebten Ziel des Pfades, sei es Gebet, Dhikr oder Allahs „Gedenken", Jihād oder Fasten, sie sind lediglich – für den Pfadbeschreiter – angemessene Verhaltensweisen vor der Majestät des Göttlichen. Es ist gerade so, wie wenn man sein Netz im Meer auswirft, dies allein aber noch keine Fische fängt, sondern daß man es dort lassen muß, so daß, wenn Allah die Fische kommen läßt, sie gefangen werden können; ebenso sind Werke wie ein Netz und ihre geistige Belohnung kommt von Allah. Abū Huraira raDiy-Allahu-anhu.gif Allah habe Wohlgefallen an ihm – hörte den Propheten ﷺ Allah segne ihn und gebe ihm Heil – sagen:

„Niemand von euch wird durch seine Werke gerettet werden." Jemand fragte: „Auch du selbst nicht, oh Allahs Gesandter?" Worauf dieser erwiderte: „Nicht einmal ich selbst, außer wenn Allah mich mit Seiner Barmherzigkeit umfasst. Aber bemüht euch, das Rechte zu tun und zu sagen."

Imām an-Nawawī kommentiert:

„Der äußere Sinn dieser Hadīthe [n: Muslim überliefert mehrere] bekräftigt den Standpunkt der islamischen Orthodoxie, daß niemand für seine Gehorsamstaten eine Belohnung oder das Paradies verdient. Was Allahs – des Allerhöchsten – Worte betrifft: { Geht in den (Paradies)garten ein für das, was ihr zu tun pflegtet! } (Qur'ān, Sūra 16 an-Nahl 32) und { Siehe, das ist der (Paradies)garten. Er ist euch zum Erbe gegeben worden für das, was ihr zu tun pflegtet.} (Qur'ān, Sūra 7 al-Aʿrāf 43) und ähnliche Verse, die darauf hinweisen, daß man durch tugendhafte Werke ins Paradies eingeht, so widersprechen sie nicht diesen Hadīthen.
Vielmehr ist die Bedeutung dieser Verse jener, daß man zwar durch Werke ins Paradies eingeht, jedoch mit göttlich gewährtem Gelingen (taufīq) diese Werke zu vollbringen, sowie rechtgeleitet zu sein, darin aufrichtig zu sein, und dann ihre Annahme als Barmherzigkeit Allahs, des Allerhöchsten, und Seine Gunst."

Der wahre geistige Pfad ist der der Dankbarkeit. Abū Sulaimān ad-Dārānī pflegte zu sagen: „Wie kann ein vernünftiger Mensch auf seine Werke stolz sein, wenn seine Werke nur ein Geschenk von Allah sind und ein Segen von Ihm, für die er Ihm zu danken hat?" Und Abū Madyan sagt: „Die Niedergeschlagenheit des Sünders ist besser als das Frohlocken des Gehorsamen."

Ibn ʿAtā'i-Llāh setzt in seinem Weisheitsspruch den Reisenden davon in Kenntnis, nicht vor dem wahren Pfad durch seinen eigenen hohen Vorsatz verschleiert zu sein. Während irāda oder „das Wollen" eine Voraussetztung des Weges ist und ja das Wort murīd oder „Schüler" davon abgeleitet ist; sublimiert es der Pfad schließlich durch den Tauhīd in sein Gegenteil, indem aufgezeigt wird, daß es [d.h. „das Wollen"] ein bloße Grund ist, der allein den Aufstieg der Seele nicht logisch notwendig macht, sondern allein Allahs reine Freigebigkeit. Deswegen bezeichnen einige Scheichs den Reisenden vom erstgenannten geistigen Ausgangspunkt aus gesehen einen Murīd oder „Wollenden", und von einen von letzterem aus gesehen einen Faqīr oder „Bedürftigen". Der Prophet Mose – Heil und Segen seien auf ihm – sagte, als er in das Land Midian gelangte:

„Mein Herr, ich bedarf des Guten, was immer es sei, das Du auf mich herabsenden magst."
(Qur'ān, Sūra 28 al-Qasas 24).

Diese bescheidene Aufrichtigkeit gehorsamer Knechtschaft, oder wir könnten sagen Realismus, befähigt den ernsthaften spirituellen Reisenden, sowohl von seinem Guten als auch von seinem Bösen Nutzen zu ziehen. Er hat Nutzen von seinem Guten, indem er es als nicht von sich selbst kommend sieht, da Abū Bakr al-Wāsitī sagt: „Was Allah am meisten verabscheut, ist das Ich und dessen Handlungen [als bedeutungsvoll] anzusehen". Denn dies widersprāche dem Tauhīd, da Allah - erhaben sei Er in Seiner Majestät - sagt:

„Was ihr an Gunst erfahrt, ist von Allah."
(Qur'ān, Sūra 16 an-Nahl 53).

Und er hat Nutzen vor dem Bösen [das er tat] durch seinen Glauben (īmān) daß [der ihm zeigt, dass] es böse ist, was in sich selbst einer Handlung des Gehorsams entspricht, und dadurch, dass er es bereut, was wiederum Allah, den Allerhöchsten, erfreuen wird. Anas ibn Mālik raDiy-Allahu-anhu.gif – Allah habe Wohlgefallen an ihm – überliefert vom Propheten ﷺ Allah segne ihn und gebe ihm Heil – die folgenden Worte:

„Allah freut sich wahrlich mehr über die Reue Seines Dieners, wenn sich dieser Ihm [wieder] zuwendet, als jemand von euch auf seinem Reitkamel in einer wasserlosen Wüste, wenn dieses ihm mit allen Nahrungs- und Wasservorräten davonläuft und er die Hoffnung verloren hat, es wiederzufinden und dann zu einem Baum kommt, in dessen Schatten er sich hinlegt, ohne die Hoffnung, sein Reittier jemals wiederzusehen. Während er dort liegt, findet er es plötzlich bei ihm stehend, da ergreift er sein Halfter und spricht außer sich vor Freude: ‚O Allah, Du bist mein Diener, und ich bin Dein Herr‘, und verspricht sich aus übergroßer Freude ."

Das Geheimnis der Reue (tauba) auf dem geistigen Pfad ist, daß ihr mit der göttlichen Freude von Allah, dem Allerhöchsten, entgegnet wird. Abu l-Hasan asch-Schādhilī, Ibn ʿAtā'i-Llāhs Scheich, pflegte täglich zu beten: „Wenn wir Dir ungehorsam sind, dann erweise uns eine noch vollkommenere Barmherzigkeit, als wenn wir Dir gehorsam sind."

Ibn ʿAtā'i-Llāh schrieb diesen ersten Weisheitsspruch in sein Buch der Weisheiten, um den Reisenden davon in Kenntnis zu setzen, daß [geistige] Arbeit geleistet werden muß, auch wenn Fehler vorkommen: [und er zeigt, wie wichtig es ist,] sich in Reue Allah zuzuwenden und zu erkennen, daß Allah [überaus] großzügig ist, und darauf zu vertrauen, vom geistigen Pfad das Beste erlangen zu können.

Ein Indiz dafür, daß man auf Allah vertraut, ist, daß die hoffnungsvolle Erwartung unvermindert bleibt. Ein Indiz dafür, daß man sich auf sein Ich verläßt, ist, daß es sich emporschwingt, bis es einen Fehltritt begeht und aus verletztem Stolz abstürzt. Entmutigung auf dem Pfad bedeutet, daß man die göttliche Allmacht nicht begriffen hat, während Gewißheit auf dem Pfad und gegenüber seinem Herrn zur Adab [das vorbildlichen Verhalten] derjenigen gehört, die Allah kennen.

Quelle: ISLAMICA MAGAZINE, Winter 2003, Nr. 10, S. 83 f.
© Nuh Ha Mim Keller, Alle Rechte
xL =broken link 2020-10-01; www.IslamicaMagazine.com, mit Erlaubnis.



Übertragen aus dem Englischen von ʿAbdullāh Frank Bubenheim

Ibn ʿAtā' Allāh, Bedrängnisse sind Teppiche voller Gnaden, übersetzt und eingeleitet von Annemarie Schimmel, Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 1987.

Sahīh Muslim 4.2169, Nr. 2816.

Yahyā ibn Scharaf an-Nawawī, Sahīh Muslim bi-Scharh an-Nawawī, 18 Bde., 1349/1930 (Nachdruck, 18 Bde. in 9, Dār al-Fikr, Beirut, 1401/1981), 17, 160–61.

Zakariyyā al-Ansārī, Mustafā al-ʿArūsī und ʿAbd al-Karīm al-Quschairī, Natā'idsch al-afkār, 4 Bde., Kairo, 1290/1875 (Nachdruck, ʿAbd al-Wakīl ad-Durūbī, o.D.), 1.114.

Schuʿaib Abū Madyan al-Ansārī und al-ʿArabī asch-Schauwar, Al-Minan ar-rabbāniyya al-wahbiyya fi l-ma'āthir al-Ghauthiyya, Ed. Muhammad al-Hāschimī (als Dīwān al-Qutb ar-Rabbānī al-ʿ ārif bi-Llāg al-Ghauth as-Samadānī asch-Schaikh Sayyidī Schuʿaib Abū Madyan [...]), Matbaʿa at-Taraqqī, Damaskus, 1357/1958, 50.

Abū ʿAbd ar-Rahmān as-Sulamī, ʿUyūb an-nafs wa-adwiyatuhā, Ed. Muhammad Amīn al-Fārūqī, Dār al-ʿUrūba, Damaskus, 1418/1997, 39.

Muslim 4.2104: 2747.

Abu l-Hasan asch-Schādhilī und andere Scheichs der Schādhiliyya-Tarīqa, Invocations of the Shadhili Order, herausgegeben und übersetzt von Nūh Hā Mīm Keller, Dār Abu l-Hasan, ʿAmmān, 1418/1998, 27.

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* (oder: die Abnahme der hoffnungsvollen Erwartung (rajā')







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