Um die Lehre von der Vielzahl der Welten richtig zu erfassen, gehen wir zurück auf den allergrundlegendsten Begriff: die Unendlichkeit. Wir gebrauchen den Ausdruck "Unendlichkeit" für das, was keinerlei Grenzen hat. Wir wenden ihn nicht an auf alles, was nur einzelnen Grenzen nicht unterliegt, anderen aber unterworfen bleibt. So kann der Raum einerseits unbegrenzt sein, bleibt aber andererseits immer Raum, also allen Bestimmungen unterworfen, die den Raum definieren. Er ist begrenzt durch alle anderen Möglichkeiten, also nicht unendlich im Sinne der Allmöglichkeit; nur diese ist durch keine anderen Möglichkeiten begrenzt, also wirklich unendlich. Wenn eine endliche Möglichkeit unbegrenzt ist, sprechen wir von Endlosigkeit, so von einer endlosen Zahlenreihe, einem endlosen Raum. Die Ewigkeit ist ein Anblick der wirklichen Unendlichkeit und ist nicht als endlose Zeit aufzufassen. Man sollte auch nicht von einer mathematischen Unendlichkeit sprechen, sondern nur von einer mathematischen Endlosigkeit, da sie auf das Gebiet der Menge begrenzt ist. Das Endlose ist nur eine Ausdehnung oder Entwicklung des Endlichen. Daß das Endlose vom Endlichen ausgeht und in ihm im Prinzip schon enthalten ist, zeigt besonders deutlich die Reihe der Zahlen: Wenn ihre Grenze auch so weit hinausgeschoben ist, daß wir sie sozusagen aus dem Blick verlieren, ist sie doch immer vorhanden. Die Zahl geht nie über die Quantität hinaus und kann nie wirklich unendlich werden. Das Mehr kann nie aus dem Wenigen hervorgehen, Unendliches nie aus dem Endlichen.
Wenn Bedingungen wie Raum, Zeit, Zahl, indem sie sich endlos entfalten, unendlich wären, könnte es neben der Zeit keinen Raum, keine Zahl, überhaupt keine anderen Bedingungen geben. Wäre eine einzelne Bedingung im absoluten Sinn unendlich, wäre es absurd anzunehmen, daß es daneben noch andere Bedingungen gibt.
[1] Das Unendliche läßt keine Einschränkung zu, ist völlig unbedingt; es ist auch unbestimmt, da jede Bestimmung eine Begrenzung ist, indem sie alle anderen Bestimmungen ausschließt. Jede Begrenzung ist eine Verneinung, eine Grenze setzen heißt alles verneinen, was diese Grenze ausschließt. Umgekehrt ist die Verneinung einer Grenze als Verneinung einer Verneinung logisch und mathematisch eine Bejahung. Die Unendlichkeit, die jede Grenze verneint, ist daher die vollste Bejahung. Weil sie ohne Grenze, ohne Bestimmung, ist, läßt sie sich sprachlich nur negativ umschreiben, weil jede positive Aussage eine Bestimmung, eine Begrenzung, wäre. Die Idee des Unendlichen ist unanfechtbar, weil sie reine Bejahung ist und nichts Negatives enthält, kann sie auch keinen Widerspruch in sich schließen. Sie ist die logisch gesprochen notwendigste Idee, denn ihre Verneinung wäre ein Widerspruch.
[2] Nur etwas, das außerhalb des Ganzen liegt, könnte dieses begrenzen; das Ganze wäre aber nicht das Ganze, wenn es etwas gäbe, das außerhalb liegt. Das Ganze im universalen Sinn dürfen wir nicht verwechseln mit irgendeinem bestimmten Ganzen, das sich aus Teilen zusammensetzt:
Es ist ohne Teile, denn solche Teile müßten notwendigerweise relativ und endlich sein; damit könnten sie aber zum universalen Ganzen in keine Beziehung treten und mit ihm auf keinen gemeinsamen Nenner gebracht werden.
[3] Diese Überlegungen zeigen, daß es keinen Sinn hat zu versuchen, sich vom Unendlicheneme bestimmte Vorstellung zu machen.
Die Allmöglichkeit ist ein anderer Anblick der Unendlichkeit. Nicht daß innerhalb der Unendlichkeit getrennte Anblicke beständen. Wir Menschen sind es, die diese Unterscheidung machen. Wir befinden uns in einer individuellen, der Form unterworfenen Welt; unser individuelles Verständnis und unsere Ausdrucksmöglichkeit sind beschränkt. Wir müssen uns der Tatsache bewußt bleiben, daß diese unsere Unvollkommenheit die Unendlichkeit nicht berührt. Wir unterscheiden Unendlichkeit und Allmöglichkeit: Wenn wir die Unendlichkeit unter ihrem aktiven Anblick betrachten, ist die Allmöglichkeit ihr passiver Anblick.
[4] Auf der Ebene des Seins entspricht dies der Unterscheidung von Essenz und Substanz. Wir rufen aber in Erinnerung, daß das Sein nicht die höchste, absolute Allmöglichkeit ist.
[5] Daß das Sein nicht mit der Unendlichkeit gleichgesetzt werden darf, werden wir im folgenden noch näher erklären.
Fussnoten:
[1] Absurd im logischen und mathematischen Sinn ist, was einen Widerspruch in sich schließt. Der Begriff deckt sich mit dem Unmöglichen, denn möglich ist alles, was nicht an einem inneren Widerspruch leidet.
[2] Wir sollten die logische und die faktische Notwendigkeit auseinanderhalten. Wenn eine Sache unabhängig von allen besonderen Bedingungen nicht anders sein kann, als sie ist oder nicht nicht sein kann, sprechen wir von logischer Notwendigkeit. Die faktische Notwendigkeit ist lediglich die Unmöglichkeit, für die Sachen oder Wesen sich den Bedingungen der Welt, der sie angehören, nicht zu unterwerfen; sie ist nur innerhalb dieser Welt eine Notwendigkeit.
[3] Insbesondere ist zu vermeiden, das universale Ganze als eine Art arithmetischer Summe aufzufassen, die sich ergibt, wenn man ihre Teile zusammenzählt.
[4] Aktiver und passiver Anblick entsprechen in Indien Brahma und seinen Shakti, in China der »aktiven Vollendung«
(Chien) und der »passiven Vollendung« (Kun).
[5] Vgl.
Die Symbolik des Kreuzes, Kap. XXIV.
Aus:
Stufen des Seins, von René Guénon - Shaykh ʿAbd Al Wahid Yahya